Warum Federhirn ?
Zu dieser Frage habe ich mir schon etliche Geschichten ausgedacht.
Hier einige davon:
Die Kürzeste
Ich fragte mich, was nötig und wichtig sei, um Künstler zu werden.
Neben den Händen (mit nicht zu vielen linken Daumen), den Augen (vorzugsweise offen) und dem Herzen (hoffentlich am rechten Fleck) braucht es Technik, Material und Infrastruktur einereits und etwas Zusammenführendes und Vorantreibendes andererseits: Federn und Hirn oder eben Federhirn.
Die Wahrste (sozusagen)
Im Gymnasium habe ich das Schwerpunktfach Zeichnen/Gestalten belegt und musste eine Abschlussarbeit vorlegen. Ich habe eine Fotoserie angefertigt – alles eigenhändig von der Kamera-Pirsch über die Dunkelkammer zur Montage der Abzüge. In der Serie werden Bäume allmählich durch Antennen, Hochspannungsmasten und dergleichen verdrängt. Diese Arbeit habe ich in der Form einer wissenschaftlichen Publikation oder Dissertation gestaltet mit dem Titel: «Metamorphosen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts». Das multi- disziplinäre Autorenteam bestand im wesentlich aus mir und meiner Selbst; oder genauer:
Wissenschaftliche Leitung: Heiner Rainer Federhirn, Fotographische Dokumentation: H.R. Fokusdreh, Expertenbeirat aus Asien: Huan Rao Fujiyoshi. Für diese Arbeit habe ich den Preis einer Internationalen Expertenkommission erhalten. Diesen hatte ich auch selber erfunden und produziert. Es wurde eine schöne Urkunde überreicht auf Pergamentpapier mit Siegel und zwei weiteren Pseudonymen unterzeichnet, deren Namen auch auf des Kürzel hrf gingen. Seither signiere ich meine Bilder mit hrf. Mit dem Preisgeld habe ich mir und den Mitarbeitern eine Runde spendiert .
Die meisten Pseudonyme habe ich hinter mir gelassen oder vergessen. Dabei reut mich der Japanische Experte FUJIYOSHI am meisten: die Kombination der drei I (jiy) nahe aufeinander hat mir immer sehr gefallen. Aber da die Japaner R und L anders verwenden als wir, wurde auch das Kürzel ein Problem.
Geblieben ist HR FEDERHIRN und das Kürzel hrf. Nur noch HR, da mir die Idee Heiner oder Rainer gerufen zu werden nicht behagt.
Die Abenteuerlichste
Meine Vorfahren väterlicherseits waren Juden und lebten als Gänsezüchter und Schnapshändler in Imsticevo am Fuss der Karpaten in der heutigen Ukraine, dem damals kaiserlich-königlichen Hinterland. Der Familienname lautete seit Menschengedenken auf Federhirn. Ob das mehr mit den Gänsefedern, die sie als Schreib- und Zeichengeräte handelten, oder mehr mit dem selbstgebrannten Geist aus der Flasche, der ins Hirn steigt, zu tun hat, weiss ich nicht. Jedenfalls handelte meine Familie mit beidem und lebten gut davon.
Bis die Nazi kamen. Es wurde schwierig. Obschon mehr getrunken wurde, liefen die Geschäfte schlecht. Mein Urgrossvater zog weg und gelangte auf Umwegen und durch die Investitionen seines Vermögens ins inoffizielle Transportwesen in den Westen. (Der Imsticevo-Birkenau Express der Deutschen Eisenbahn war trotz des günstigen Fahrpreises keine echte Option.) Eines frühen Morgens im Oktober erreichte er den Rhein. Er hatte vom vollen Boot gehört, von dem so viele sprachen, fand aber weit und breit kein Boot. Er entschied sich zu schwimmen und stieg trotz der Strömung und dem Regen, in den sich Schneefetzen mischten in den Fluss, um ans andere Ufer zu kommen. Ein Krampf im Oberschenkel verhinderte dies. Er trieb ab, ohne seine restlichen Habseligkeiten, und strandete nicht weit vom Schloss Mammern auf der anderen Seite. Er wurde von Bauersleuten geborgen, getrocknet, gekleidet und genährt und konnte sich in der Knechtenkammer erholen. Da die Retter rechtschaffene Leute waren, meldeten sie ihn den Behörden und der Dorfpolizist tauchte am nächsten Tag auf. Mein Urgrossvater, stolz kein «sans-papiers» zu sein, zückte seine Dokumente. Diese waren korrekt in kaiserlich-königlicher Manier ausgestellt, stellenweise sogar in kyrillischer Schrift, jedoch vom Wasser arg mitgenommen. Der Name FEDERHIRN war nur noch teilweise zu entziffern und die Rubrik Religion gar nicht. Der Polizist kratzte sich hinter dem Ohr, seufzte, kippte den angebotenen Schnaps und notierte , was er lesen konnte: F§§E§H§R§. So wurde aus Federhirn FEHR.
(Auf die Inspektion der Vorhaut meines Urgrossvaters wurde verzichtet, wohl aus Rücksicht auf die anwesenden Frauen und Kinder.)
Mein Urgrossvater arbeitete als Totengräber und Fährmann, weshalb seitdem zwei Ruder unser Familienwappen zieren. Später betrieb er eine Dampf-Dreschmaschine, mit der er von Hof zu Hof zog, wahrscheinlich wiederum mit Schnaps und Gänsefedern handelte und Anna kennenlernte. Dies wurde der Anfang einer neuen Familie unter neuem Namen.
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Manchmal, wenn im Osten die Sonne aufgeht und ich nicht schlafen kann, frage ich mich, was passiert wäre, wenn im k.u.k. Reich die Papiere – mit Feder zwar – aber nicht mit Tinte, sondern wasserfester Tusche ausgestellt worden wären.
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Oder wenn Männer Schnaps nicht mögen würden ???
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Die Aufschlussreichste
Ich verwendete den Namen HR Federhirn schon als Gymnasiast in einer satirischen Fotoarbeit und habe ihn bereits damals lieben gelernt: Federn können schweben, abheben und im Wind treiben. Eine Feder kann ein Zeichen- oder Schreibwerkzeug sein. Ein sprichwörtlich spitzes. Federn im Hirn bedeuten auch Narrenfreiheit, Leichtigkeit im Denken und Offenheit für Neues. Federn können kritzeln und kratzen, streicheln und stacheln, aber auch knicken und brechen.
Federhirn ist wie Flausen im Kopf, worauf ich nicht verzichten möchte. Oder wie es Charlie Chaplin so schön gesagt haben soll: «Wer das Leben ernst nimmt, braucht eine gute Portion Humor, um es auszuhalten!»
Die Lauteste (und bisher Neueste)
Wie der Name Federhirn zu mir kam
Ich schliesse die Augen und sehe es wieder vor mir: das Kind, welches auf dem Behandlungstisch liegt und stirbt. Mit faltiger Haut, viel zu faltig für die knapp 17 Monate, die es alt geworden ist, mit Nasenflügeln, die bei jedem Atemzug flattern und mit weit geöffneten Augen liegt es in einer Windel mit gestickten Blumen auf dem Chromstahlblech. Blaue Flecken von den Infusionsversuchen am kahlen Schädel und später noch mehr blaue Flecken von den Reanimationsversuchen als es endgültig starb, damals in Mustashfa AbuReesh, dem Kinderspital von Kairo, nicht weit vom Nil und von der Uniklinik Kasr ElAini; zwischen Hilton und Sheraton sozusagen.
Es ist zum schreien und ich schreie. Still vor mich hin, schreie ich und schreie. Durchfall hat es weggerafft; sauberes Wasser und eine Prise Salz zur rechten Zeit hätten es gerettet. Und dies hätte die Eltern mehr getröstet als die gut gemeinten, aber doch nur in Eile eingeschobenen Worte des Oberarztes. Salz und Wasser, wie die Tränen der Mutter, die ihre Wangen und ihr Kopftuch am Kinn netzen, begleitet vom grellen Geschrei der anderen weiblichen Angehörigen. Es dröhnt in meinem Kopf. Es mischt sich mit meinem Schreien.
Und es schreit und schreit.
Und schreit.
Ich öffne die Augen, um das Geschrei loszuwerden, doch es schreit weiter.
Und ich schreie weiter und weiter.
Und weiter.
Es schreit mit mir.
Und es schreit mich. Und schreit und schreit.
Und schreit weiter und immer weiter.
Das Geschrei wird lauter und lauter und beunruhigt nicht nur die nächsten Angehörigen.
Man sucht Hilfe.
Zuerst kommen drei Personen in rotem Kombi mit Kugelschreiber in der Seitentasche und netten Worten. Doch das Schreien wird nur lauter. Dann kommt einer allein in einer braunen Weste mit einem Kugelschreiber am Klappbrett und Formularen. Er spricht ernste Worte und füllt die Formulare aus, in mehrfacher Ausführung: eines für sich, eines für mich und noch andere. Es schreit und schreit mit mir, immer laut und immer weiter. Dann kommen wieder zwei in blauem Kombi, mit Kugelschreiber in der Brusttasche. In der Seitentasche am Gurt eine Pistole, trotzdem sind sie nett und bringen mich im Streifenwagen weg. Das Geschrei begleitet unsere Fahrt. In einem grossen Backsteinhaus lassen sie mich zurück und das Geschrei lässt etwas nach. Es hat viele Leute, mit und ohne Kombi, aber alle mit Kugelschreiber.
Über die Tage lässt das Geschrei allmählich nach, wird langsam leis und leiser. Ob ich die Augen öffne oder schliesse: leise, leiser und dann still. (Nur wenn ich die Augen fest und lange schliesse, dann,... aber das verrate ich nicht!)
Ich werde in ein grosses Zimmer mit grossen Fenstern und einem grossen Schreibtisch gebracht. Ein Herr mit grauem Jacket und grauem Haar sitzt dahinter und spricht in einem diskreten Balkanakzent mit mir. Er spielt mit seinem Kugelschreiber: Caran d‘Ache, versilbert, mit Kantonalbank Logo. Er ist Raucher, hält den Kugelschreiber wie eine Zigarette und klopft die Asche hin und wieder davon ab. Das Rauchverbot in der Klinik lässt den grossen, gläsernen Aschenbecher leer bleiben. Er erklärt mir, dass etwas in meinem Kopf nicht gut sei, sondern krank. Und dass ich hier bleiben soll, damit es bessere. Mit dem Kugelschreiber zeigt und tippt er auf einen Stapel Blätter mit meinem Namen. Schizo- affektive Mischpsychose, ICD und ein paar Zahlengruppen stehen auch darauf.
Ich schliesse die Augen und höre wieder Schreie, ein Chor in rhythmischem Gesang. Um dem netten Herrn Zeit zu geben, um sein Feuerzeug von der linken Kitteltasche in die linke Hand zunehmen und dann in die rechte, dann wieder zurück und weiter in die Brusttasche, wo der Kugelschreiber wartet, und damit er seine Gedanken ordnen und weise Worte wählen kann, halte ich meine Augen geschlossen. Fest und lang und ich sehe sie vor mir. Sie schreien: «Geiz ist geil, Geiz ist geil, Geiz ist geil.» Im Stechschritt marschieren sie dazu. Im Takt. Nach vier Strophen folgt eine längere: «Geiz ist gaaaail und rechts umkehrt.» Wieder vier und links umkehrt. Immer weiter und zurück, weiter und zurück. Und immer lauter. Als es mir zu laut wird, öffne ich die Augen und sie marschieren gerade aus und weg. Der Herr schaut mir fragend an. Meine Krankheit könne kuriert werden, erklärt er, und will mir mit dem Kugelschreiber eine Kur verschreiben.
«Ich bin nicht krank, nicht im Kopf und auch sonst nicht» sage ich. Als er weiterhin fragend und zweifelnd in meine Augen blickt und ich beim Blinzeln doch noch in der Ferne Stiefel im Takt stampfen höre und den Gesang «G...g!...G...g!...G...g!...g!» dazu, versuche ich mit Humor zu beschwichtigen: «Höchstens – Flausen im Kopf». Das versteht er nicht; Kopf schon aber Flausen nicht. Zum erklären sage ich: «Wissen Sie, Flausen im Kopf, wie Federn im Hirn. Verstehen Sie Federhirn.»
Er schaut mich lange an, dann lacht er. Und lacht und lacht, dann hustet er und lacht. Und hustet, bis die Zettel auf dem Tisch flattern und zu Boden fliegen. Er wird rot im Gesicht und dann am ganzen Kopf blau. Und das Gehuste übertönt längst das Geschrei.
Ich nehme den grossen Aschenbecher aus Glas und lasse die Scheibe des grossen Fensters klirren. Ich zupfe mir Federn aus dem Hirn. Die kräftigsten und längsten stecke ich mir am Rücken zu Flügeln zusammen. Ich hebe ab, kreise um den Herrn und sein Pult und fliege durchs Fenster.
Auf und davon. Über Täler und Berge, über Flüsse und Seen.
Seither höre ich auf den Namen «Federhirn». Ich kann Ihnen versichern, es ist keine Krankheit – entgegen einigen Expertenmeinungen.
Aber ob es ansteckend ist oder nicht, das kann ich nicht beantworten.
im Februar 2018